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Dissertationsprojekt von Karima Renes

Literarisches Schaffen und politisches Wirken des französischen Rom Matéo Maximoff

Kupferschmied, Schriftsteller, Fotograf, Rom, Franzose – Matéo Maximoff (1917–1999) war eine facettenreiche Persönlichkeit und ein Kämpfer für die Rechte der Roma.

 

Roma in Europa

Seit dem 13. Jahrhundert ist die europäische Präsenz von Roma, deren Vorfahren zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert n. Chr. Indien verlassen hatten, nachgewiesen. Die fremden Nomaden erfuhren jahrhundertelang Marginalisierung und Verfolgung – zunächst gespeist aus mittelalterlicher Xenophobie und kontinuierlich unterfüttert von dämonisierenden oder exotistischen Darstellungen in Literatur und Kunst. Figurationen von Roma in europäischen Literaturen des 17.–19. Jahrhunderts beflügelten zwischen Tremendum und Faszinosum den orientalistischen Zeitgeist – als stereotypes Sinnbild sowohl des Fremden, Zivilisationsfeindlichen als auch der subversiven Verlockung vermeintlicher sittlicher Freiheit. Gleichzeitig wurden im zunehmend nationalstaatlich geprägten Europa Fahrende als Bedrohung von Identitäten, die sich immer stärker über territoriale Zugehörigkeit und Einheit definierten, wahrgenommen – drakonische politische Maßnahmen waren die Folge.

Aufgrund ihrer mündlichen Tradition blieb das eigene kulturelle Gedächtnis von Roma unterdessen äußerst fragil angesichts hegemonialer Übermacht skripturaler Dominanzgesellschaften. Ihre tatsächlichen Lebensrealitäten jenseits diffamierender Stereotype blieben der Umwelt weitestgehend verborgen.

Künstlerisch und journalistisch verfestigte Klishees wurden ab Beginn der Aufklärung pseudowissenschaftlich untermauert und dienten als Rechtfertigung für Verfolgung, Diskriminierung und Ausrottungsfantasien in europäischen Imperien und Nationalstaaten. Jahrhundertelange epistemische Gewalt [1] und physische Verfolgung fanden ihren Höhepunkt im Genozid an Roma im Zweiten Weltkrieg und manifestierten sich weiter im politischen und gesellschaftlichen Umgang mit überlebenden Opfern in der Nachkriegszeit. Die Ermordung etwa einer halben Million europäischer Roma durch die Nationalsozialisten bedeutete auch einen Epistemizid, da Ketten mündlicher Überlieferung ihres kulturellen Gedächtnisses unwiderruflich zerrissen wurden. Als Konsequenz aus dieser kollektiv traumatischen Erfahrung haben sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa vermehrt Roma aus dem Paradigma mündlicher Tradition gelöst, um zum Writing Back [2] anzuheben. Es galt, die Erinnerungen der Überlebenden durch Verschriftlichung vor dem Vergessen zu bewahren und Zeugnis abzulegen vom „vergessenen Holocaust“ [3]. So konnte Literatur auch zum politischen Instrument der Selbstermächtigung werden. Ein Protagonist dieser Entwicklung im französischen Sprachraum war Matéo Maximoff, dessen literarisches Schaffen und politisches Wirken zentraler Gegenstand dieser Untersuchung sind.

Matéo Maximoff

Als Sohn eines Rom Kalderaș, dessen Vorfahren Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland und Rumänien nach Frankreich immigriert waren, und einer französischen Sintezza Manouche kam Matéo Maximoff 1917 in Barcelona zur Welt, wohin seine Eltern vor dem Ersten Weltkrieg geflohen waren. In den Zwanzigerjahren ließ sich die Familie bei Paris nieder, wo Maximoff bis zu seinem Tod 1999 seinen Lebensmittelpunkt behalten sollte. Französisch wurde die Sprache seines literarischen Schaffens, er verstand sich als „Tsigane français à 100%“ [4]

Von seinen männlichen Verwandten erlernte Matéo die Kupferschmiedekunst, das traditionelle Handwerk der Kalderaș-Roma. Als beide Eltern Mitte der Dreißigerjahre starben, übernahm er als Ältester von fünf Geschwistern die Verantwortung – unterstützt von der Großfamilie. Autodidaktisch lernte er lesen und schreiben und arbeitete eine Zeit lang als Filmvorführer im Wanderkino seiner Verwandten mütterlicherseits. Während einer Inhaftierung verfasste er 1938 seinen ersten Roman Les Ursitory, der 1946 beim renommierten Pariser Verlagshaus Flammarion publiziert werden sollte.  Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs misslang der Versuch der Familie, erneut nach Spanien zu fliehen. Ab 1941 wurden die Maximoffs in den Internierungslagern Gurs und Lannemezan festgesetzt, 1943 gelang Matéo die Flucht zurück nach Paris. Nach dem Krieg mit den erschütternden Berichten KZ-Überlebender konfrontiert, verfasste Maximoff im April 1946 für das Journal of the Gypsy Lore Society einen wütenden Artikel von historisch bahnbrechender Bedeutung: „Germany and the Gypsies. From the Gypsy’s point of view“. Zum ersten Mal in der Geschichte ergriff ein Rom öffentlich und schriftlich das Wort, um an Roma verübte Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu benennen, die Täter anzuklagen, historische Gerechtigkeit und den Schutz der Menschenrechte von Roma einzufordern. Diese Postulate flossen ab 1952 in die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung französischer Roma und später der Internationalen Roma Union (IRU) ein, bei deren Gründung Maximoff eine wichtige Rolle spielte.[5] Neben seinem literarischen Schaffen und politischen Engagement war Matéo Maximoff ein passionierter wie talentierter Fotograf und Super8-Filmer, der Zeit seines Lebens zahlreiche Reisen zu Roma-Communities in aller Welt unternahm und dokumentierte.

Nach der erfolgreichen und positiv rezipierten Publikation von Les Ursitory (1946) veröffentlichte Flammarion auch die Romane Le Prix de la liberté (1955) und Savina (1957), stellte danach jedoch die Zusammenarbeit aufgrund geringer Verkaufszahlen ein. Matéo Maximoff publizierte sechs weitere Romane, einen Schauermärchen-Band, eine Autobiografie, einen Bildband und die Übersetzung des Neuen Testaments ins Romanes im Selbstverlag. Wesentlich erfolgreicher als in Frankreich verlief die Publikationshistorie der deutschen Roman-Übersetzungen Die Ursitory (1954, 2001), Der Preis der Freiheit (1955), Die siebente Tochter (1969) und Verdammt zu leben (1988) beim Münchener Verlagshaus Manesse, und den Schweizer Verlagen Flamberg, Unionsverlag und Zytglogge. Die siebente Tochter erschien in seiner deutschen Übersetzung bei Flamberg vor dem Original La septième fille (1982). Weitere Übersetzungen erfolgten ins Englische, Schwedische, Tschechische und Rumänische. 1985 wurde ihm von der französischen Regierung in Würdigung seines Lebenswerks die Auszeichnung Chevalier des Arts et des Lettres verliehen. Matéo Maximoff verstarb am 24. November 1999 in Romainville bei Paris.

Die fiktionalen Werke Matéo Maximoffs zeugen von Reichtum und Vielfalt der Traditionen, Mythen und Erzählungen der Kalderas-Roma und von außergewöhnlichem erzählerischen Talent, das in der gelebten mündlichen Erzähltradition seiner Familie geschult wurde. Sowohl autobiografisch gefärbt als auch im generationenübergreifenden Rückgriff auf das kommunikative Gedächtnis seines Umfelds, das bis ins 19. Jahrhundert in Russland und Rumänien zurückreicht, rekonstruieren die Romane als Counterstories kollektive, historische Traumata und sind zugleich künstlerischer Ausdruck einer Neuverortung zwischen Tradition und Moderne, Zentrum und Peripherie, Minderheiten und Mehrheiten. Seine Narrationen betreten neue literarische Räume zwischen mündlicher Tradition der Roma und schriftlichem Diskurs der Mehrheitsgesellschaften, was auch mit gelegentlicher Distanzierung des Autors in beide Richtungen einhergeht. Medial und inhaltlich werden hier kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten neu ausgehandelt. Entlang eines Textkorpus aus sechs zwischen 1946 und 1987 publizierten Romanen Matéo Maximoffs sollen diese Räume hybrider Narration erkundet werden.

 

Struktur der Arbeit

Der erste, einführende Teil der Arbeit vermittelt zunächst einen Überblick über die Wege von Roma aus Nordindien nach Europa vor über tausend Jahren sowie über ihre historische Präsenz, Marginalisierung und Verfolgung in Europa. Am Beispiel Frankreichs wird die Rolle von Enzyklopädien, Literatur und Journalismus bei der Konstruktion und Perpetuierung marginalisierender Stereotype, am Beispiel Deutschlands die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti und Roma aufgezeigt. Gegenstand des ersten Teils sind auch traditionelle Berufe, formalisierte Erzähltraditionen und die Genese des Writing Back von Roma in der Folge des Zweiten Weltkriegs.

Im Zentrum des zweiten Teils stehen Leben, Schreiben und politisches Wirken Matéo Maximoffs, wobei biografische Interferenzen zwischen seiner politischen und literarischen prise de conscience aufgezeigt werden. Hier wird auch die Entstehung und internationale Vernetzung der Bürgerrechtsbewegung französischer Roma und Maximoffs Rolle darin erläutert. Seinen journalistischen Beiträge – insgesamt 29 Artikel, Essays, Erzählungen, Berichte und Romanauszüge –  im 1955 von ihm mitbegründeten Journal Études Tsiganes und im Journal of the Gypsy Lore Society (JGLS) ist  ebenfalls in Kapitel gewidmet. Ausgehend von den beiden gleichnamigen Artikeln „The Gypsies of Montreuil-Sous-Bois“ (JGLS 26/194: 37–42 und JGLS 40/1961: 109–111) wird ein soziohistorischer Exkurs zu den Roms de Montreuil unternommen, den Bewohnern jenes Vororts am östlichen Stadtrand von Paris, in dem sich am Ende des 19. und erneut am Ende des 20. Jahrhunderts aus Osteuropa kommende Roma niederließen. Schließlich soll Maximoffs filmische und fotografische Arbeit – letztere geprägt durch die Bekanntschaft mit Robert Doisneau und Josef Koudelka – im Kontext seines literarischen Schaffens besprochen werden. 

Der im dritten Teil der Arbeit untersuchte Textkorpus besteht aus den Romanen Les Ursitory (1946), Le Prix de la liberté (1954), Savina (1957), La septième fille (1982), Condamné à survivre (1984) und Vinguerka (1987). In der Chronologie der erzählten Zeit vorgestellt umfassen die Narrationen einen Zeitraum von knapp 140 Jahren (ungefähr 1804 bis 1944) und bewegen sich topografisch durch Russland, Rumänien, Polen, Frankreich, Spanien, Großbritannien und Deutschland. Nach einer ausführlichen Exposition und narratologischen Untersuchung der einzelnen Werke werden in einem zweiten Schritt werkübergreifend zentrale und wiederkehrende Topoi, Motive und Figurenkonstellationen analysiert.

Im vierten Teil der Arbeit werden die Romane Doktor Shiwago (Boris Pasternak 1957), Die Bertinis (Ralph Giordano 1984) und Fires in the Dark (Louise Doughty 2003) vergleichend mit den untersuchten Werken Maximoffs entlang des Tertium Comparationis des jeweiligen historischen Zeitgeschehens analysiert. Soziale und soziohistorische Parameter werden auf ihre Auswirkungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, ihre verbindenden und trennenden Elemente hin untersucht . Abschließend wird der literarische Nachhall Matéo Maximoffs in Werken der Gegenwartsliteratur aufgezeigt.

Zielsetzung

Zentrales Ziel dieser Arbeit ist die Exposition, literaturwissenschaftliche Untersuchung und Würdigung des literarischen Schaffens Matéo Maximoffs sowohl in seiner künstlerischen als auch in seiner politischen Relevanz. Die komparatistische Herangehensweise im vierten Teil soll einer ethnisierenden Lesart von Roma-Literaturen entgegenwirken, indem Narrative der großen Traumata des 20. Jahrhunderts aus den Perspektiven Angehöriger verschiedener Nationalitäten, Ethnien und sozialer Klassen unter ähnlichen Bedingungen der Vertreibung und Verfolgung miteinander verglichen werden.

 

Verwendung der Fotografien mit freundlicher Genehmigung von Nouka Maximoff.


[1] Der 1969 durch Michel Foucault geprägte und im der postkolonialen Diskurs durch Edward Said und Gayathri Spivak im Kontext globaler Ungleichheits- und Gewaltverhältnisse aufgegriffene Begriff „epistemische Gewalt“ bezeichnet „jenen Beitrag zu Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, der im Wissen selbst angelegt und zugleich für deren Analyse unsichtbar geworden ist“ (Claudia Brunner 2020: Epistemische Gewalt. S. 12).

[2] Mit The Empire writes back (1989) haben Bill Ashcroft, Gareth Griffin und Helen Tiffin einen ersten umfassenden Überblick über postkoloniale Literaturen und Literaturtheorien des englischen Sprachraums verfasst. Der Titel und das darin benannte Konzept verweisen auf Salman Rushdies Artikel „The empire writes with a vengeance”  (Times 3 July 1982) in Assonanz zum Filmtitel “ Star Wars Episode V: The Empire strikes back” von George Lukas (1980).

[3] Zoni Weisz (2018): Der vergessene Holocaust. Mein Leben als Sinto, Unternehmer und Überlebender. München: DTV.

[4] Matéo Maximoff: „Réflexions sur l’avenir de l’organisation internationale tsigane“. In: Études Tsiganes 1971/4, S. 10–11.

[5] Vgl. Thomas Acton (2018): „Beginnings and Growth of transnational Movements of Roma to achieve Civil Rights after the Holocaust“. https://www.romarchive.eu/en/roma-civil-rights-movement/beginnings-and-growth-transnational-movements-roma/

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